Impuls zum 5. Dezember 2021
Von Klaus Hagedorn (Oldenburg), pax christi Münster und Geistlicher Beirat von pax christi
„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit…“ – Ermutigung zur Einmischung
Ein Wort vorneweg
Auf den Adventskränzen in unseren Häusern wird heute die zweite Kerze angezündet. Ein Zeichen: Licht soll uns aufgehen – neuer Durchblick in unseren Lebenserfahrungen und vielleicht neue Lebenseinsichten, die uns „auf einen grünen Zweig kommen“ lassen. Der Advent will uns in Bewegung bringen. „Advent“ und „Abenteuer“ haben dieselbe sprachliche Wurzel. Das Mittelhochdeutsche sprach von „aventiure“. Im Englischen ist dieser Zusammenhang bis heute überdeutlich: „advent“ und „adventure“ stehen in jedem Wörterbuch direkt nacheinander. Gemeint ist: das, was auf mich zukommt und bei dem ich mit manchen Überraschungen zu rechnen habe.
Die Texte und Lieder im Advent setzen ein großes „Trotzdem“ gegen alles Dunkele und Trostlose, das sich in unserem Leben angesammelt hat: gegen die Täuschungen und Enttäuschungen, die glanzlosen Alltage, die Mühen, Sorgen und Ängste, die wir mit uns tragen. Es geht um Trost hier und jetzt, nicht um Vertröstung. Es geht um Ermutigung, das Leben und das Engagement immer wieder neu zu wagen – auf Verheißung hin.
Von Albert Schweitzer begegnete mir kürzlich folgende Einsicht: „So sehr mich das Problem des Elends in der Welt beschäftigte, so verlor ich mich doch nie in Grübeln darüber, sondern hielt mich an den Gedanken, dass es jedem von uns verliehen sei, etwas von diesem Elend zum Aufhören zu bringen.“
Ein Trost-Wort aus Jesaja 35,1-10
Die Wüste und das trockene Land sollen sich freuen, die Steppe soll jubeln und blühen.
Sie soll prächtig blühen wie eine Lilie, jubeln soll sie, jubeln und jauchzen. Die Herrlichkeit des Libanon wird ihr geschenkt, die Pracht des Karmel und der Ebene Scharon. Man wird die Herrlichkeit des Herrn sehen, die Pracht unseres Gottes.
Macht die erschlafften Hände wieder stark und die wankenden Knie wieder fest!
Sagt den Verzagten: Habt Mut, fürchtet euch nicht! Seht, hier ist euer Gott!
Dann werden die Augen der Blinden geöffnet, auch die Ohren der Tauben sind wieder offen.
Dann springt der Lahme wie ein Hirsch, die Zunge des Stummen jauchzt auf. In der Wüste brechen Quellen hervor und Bäche fließen in der Steppe.
Der glühende Sand wird zum Teich und das durstige Land zu sprudelnden Quellen. An dem Ort, wo jetzt die Schakale sich lagern, gibt es dann Gras, Schilfrohr und Binsen.
Eine Straße wird es dort geben; man nennt sie den Heiligen Weg. Kein Unreiner darf ihn betreten. Er gehört dem, der auf ihm geht. Unerfahrene gehen nicht mehr in die Irre.
Es wird keinen Löwen dort geben, kein Raubtier betritt diesen Weg, keines von ihnen ist hier zu finden. Dort gehen nur die Erlösten.
Die vom Herrn Befreiten kehren zurück und kommen voll Jubel nach Zion. Ewige Freude ruht auf ihren Häuptern. Wonne und Freude stellen sich ein, Kummer und Seufzen entfliehen.
Ein Lied-Wort: Macht hoch die Tür …
Macht hoch die Tür, die Tor macht weit; es kommt der Herr der Herrlichkeit, ein König aller Königreich, ein Heiland aller Welt zugleich, der Heil und Leben mit sich bringt; der halben jauchzt, mit Freuden singt. Gelobet sei mein Gott, mein Schöpfer reich an Rat.
Er ist gerecht, ein Helfer wert. Sanftmütigkeit ist sein Gefährt, sein Königskron ist Heiligkeit, sein Zepter ist Barmherzigkeit; all unsere Not zum Ende er bringt; derhalben jauchzt, mit Freuden singt. Gelobet sei mein Gott, mein Heiland groß von Tat.
O wohl dem Land, o wohl der Stadt, so diesen König bei sich hat. Wohl allen Herzen insgemein, da dieser König ziehet ein. Er ist die rechte Freudensonn, bringt mit sich lauter Freud und Wonn. Gelobet sei mein Gott, mein Tröster früh und spat.
Das Wort vom Tag aus Lukas 3,1-6
Es war im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius; Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa, Herodes Tetrarch von Galiläa, sein Bruder Philippus Tetrarch von Ituräa und der Trachonitis, Lysanias Tetrarch von Abilene; Hohepriester waren Hannas und Kajaphas. Da erging in der Wüste das Wort Gottes an Johannes, den Sohn des Zacharias.
Und er zog in die Gegend am Jordan und verkündete dort überall die Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden, wie im Buch der Reden des Propheten Jesaja geschrieben steht:
Stimme eines Rufers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn! Macht gerade seine Straßen! Jede Schlucht soll aufgefüllt und jeder Berg und Hügel abgetragen werden. Was krumm ist, soll gerade, was uneben ist, soll zum ebenen Weg werden. Und alle Menschen werden das Heil Gottes schauen.
Ein Deute-Wort
Alle „Revuen“ im Fernsehen, in Politik und Kultur sind Inszenierungen, die beim Publikum ankommen sollen. Der Held oder die Heldin des Tages treten auf die große Bühne – fast immer von oben herunter. Da gibt es eine Tür, einen Vorhang, einen nicht einsehbaren Gang, die sich plötzlich öffnen. Wie aus einer anderen Welt wird ins Rampenlicht eingetreten: von oben nach unten. Das kommt meistens gut an. Der Grund: Wer da herabsteigt, spiegelt oft unsere nicht erfüllten Wünsche wider und wird damit zur Projektion nicht eingelöster Sehnsucht und Erwartung. Auch mitten in unser Leben soll ein Lichtbringer, eine Lichtbringerin kommen. Ein Glanz von Größerem soll aufgehen, von oben herabkommend auf uns zu und mitten unter uns und in uns aufstrahlend.
Genau das gleiche Muster beim Adventslied „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit“. Da soll endlich jemand kommen und Heil und Leben wiederbringen in einen verheerenden Alltag. 1623 ist dieser Liedtext geschrieben. Fünf Jahre tobt der 30jährige Krieg bereits und verdunkelt Europa – ein Krieg zwischen Protestanten und Katholiken. Und er endet erst 1648 nach 30 Katastrophen-Jahren mit dem Friedensschluss in Osnabrück und Münster. Georg Weißel, Pfarrer in Königsberg, bringt ins Wort, was ersehnt wird: dass da jemand komme, der Heiland komme, der alle Kämpfe um Macht beende und Frieden stifte. Nur er könne das, kein anderer: Licht ins Dunkle und die Not zum Ende bringen.
Georg Weißel knüpft mit seinem Liedtext an den uralten Psalm 24 an. „Ihr Tore, hebt euch nach oben, hebt euch, ihr uralten Pforten; denn es kommt der König der Herrlichkeit…“ (V 7ff) Im Blick dabei ist der Tempel in Jerusalem. Hier soll erfahrbar sein, was für die Welt im Ganzen erhofft wird: dass sie das Wohnhaus Gottes sei, dass alles erfüllt sei von Frieden und Gerechtigkeit, von Stimmigkeit. Der höchst begrenzte, faktisch kleine Tempel in Jerusalem wird zum Versprechen für die ganze Welt: Ein Haus voll göttlicher Güte und Freude der Menschen soll er sein. Deshalb der Ruf: „Du Tempel, mach deine Tore auf“. „In den Tempel gehen“: das heißt demzufolge: in die gerechte Weltordnung gehen, das rechte und gerechte Leben ansteuern, wo Selbstsucht, Eigeninteressen, Korruption, Lügen nicht den Ton angeben.
Im Lied „Macht hoch die Tür“ ist eine solche Begegnung angekündigt: „Es kommt ein König aller Königreich, ein Heiland aller Welt zugleich“. Auf solchem Hintergrund wird verständlich, warum Lukas im heutigen Evangelium (Lukas 3,1-6) die damaligen Potentaten genau benennt: den Kaiser, seine Statthalter, die Provinzfürsten, die Hohenpriester. Der da kommt und angekündigt wird, ist ein Anti-Potentat zu all diesen. Er mischt die Verhältnisse auf. Da ist ein höchst kritischer, konfrontativer Ton, den wir mitzuhören haben. Es gilt nicht mehr, was diese Potentaten zu sagen haben. Es gibt einen Herrschaftswechsel. Die Sehnsucht nach diesem Heiland hat den Glauben an die Herrschaften dieser Welt aufgegeben. Hier bricht sich eine Sehnsucht Bahn, die durch Sanftmut geprägt ist, durch Friedenswillen, durch Barmherzigkeit: „…sein Zepter ist Barmherzigkeit; all unsere Not zum Ende er bringt…“ Hier wird ein Herrscher ersehnt, der auf der Seite der kleinen Leute steht und die Weltverhältnisse aufmischt. „O wohl dem Land, o wohl der Stadt, so diesen König bei sich hat…“ - und nicht nur die demokratisch gewählten oder diktatorisch sich aufgestellten Machthaber. Sich auf diesen Heiland –diesen Jesus den Christus- einzulassen, das bedeutet: Einmischung in die konkreten Verhältnisse auf besondere Art, damit das Leben stimmig(er) wird. Uns Leuten von pax christi brauche ich Problem- und Handlungsfelder nicht näherhin aufzuzeigen. Man denke an all die Engagements, die wir in Kommissionen, Arbeitsgruppen, Diözesan-Vorständen, Initiativgruppen, Kooperationen inter- und national leisten.
Wenn ich an diesem Sonntag in dieses Lied selbst einstimme, denke ich an dreierlei, was Leben stimmiger macht und gerechter – und was stets zu erinnern ist, damit der Mut nicht verloren geht. Und damit steige ich in die Spur Jesu ein, in seine Grundüberzeugung, seine Lebenshaltung und sein Verhalten.
Jeder Mensch ist Mensch, nicht der eine mehr, der andere weniger, nicht der eine wertvoll, der andere unwert. Jeder Mensch ist Mensch. Er hat nicht nur einen Wert, sondern eine unantastbare Würde. Das kommt von Jesus seinem Gott (!) her. Das ist das erste für mich.
Das Zweite: Ich darf mir zusagen lassen immer über Menschen, von Gott her-, was ich mir selbst nicht sagen kann, was ich oft so schwer nur zu glauben wage und wonach ich mich doch so sehr sehne: dass ich nämlich mit allem, was ich faktisch bin, anerkannt und gutgeheißen bin. Trotz Grenzen, trotz Schuld, im klaren Bewusstsein meiner Begrenztheit darf ich mir gesagt sein lassen, dass ich unbedingt erwünscht bin und es bleibe. Mein Heil und mein Leben hängen nicht von meinen Aktiva und Passiva ab. Was für mich Geltung hat, ist auch allen anderen zuzusagen. Mit diesem Zuspruch zu leben, das ist für mich adventlich glauben. Das lässt mich Gelassenheit immer neu einüben und hält mich in Bewegung. Da kommt etwas auf mich zu, bei dem ich mit manchen Überraschungen zu rechnen habe.
Das Dritte ist für mich eine besondere Herausforderung: Der Blick auf die geschlagenen und gescheiterten Menschen, die Opfer und Verlierer, die am Boden liegen – manche denken vielleicht: der letzte Dreck, kaputte Typen. Wenn ich ihrer Lebensgeschichte zuhöre, beginnen sie oft erst zu leuchten – eine unzerstörbare Würde. Auf den ersten Blick Undurchschaubares, Nicht-Attraktives; aber ich kann in ihnen etwas von Jesus entdecken – und seine Blickrichtung einnehmen.
In den 2000 Jahren nach Christus sind durchgehend immer wieder neu die Türen hochgemacht und die Tore weit aufgemacht worden. Dass die Würde jedes Menschen unantastbar ist, dass jeder Mensch unbedingt erwünscht ist von Gott her, dass die Opfer in den Augen Gottes einen Vorrang haben und die Täter, auch ich selbst darunter mit meiner Lebensweise, zu entlarven sind – das ist immer wieder neu und durchgängig wachgehalten worden – allen Einsprüchen und allen Mächten zum Trotz. Gott sei Dank.
Ein Stille-Wort
Wir dürfen dich rufen, hast du gesagt.
„Ich werde da sein“ war dein Name.
Aus der Tiefe habe ich gerufen.
Aus meinem Diensthaus, in meiner Erniedrigung
rief ich zu dir – aber keine Antwort.
Reiß doch die Wolken weg und komm.
Hier, jetzt, sei unser Gott – wer sonst!
Keiner hat uns ein Land versprochen
von Lichtströmen und Bächen voll Wasser,
wo Gerechtigkeit wohnt -
doch du wohl.
Versprich uns nicht, was nicht sein kann.
Lass uns nicht sehen, was nicht ist.
Nichts ist bei dir unmöglich.
Dein Reich komme.
Hol die Tyrannen nieder von ihren Thronen,
heb die Erniedrigten hoch.
Zu dir steigt meine Seele empor.
Richte mich, richte mich auf.
Erleuchte meine Augen.
Gesegnet seist du,
mein Fels.
Gesegnet du,
der du Quelle des Lebens bist,
der du wie eine Quelle aufspringst in Menschen.
Nichts ist bei dir unmöglich.
Mir geschehe nach deinem Wort.
Aus: Huub Oosterhuis, Um Recht und Frieden, 26f